Mit Theorie gegen das Verwackeln

 

Prof. Dr.-Ing.  Erhard Bühler

 

 

Eines der grundlegenden Probleme der Fotografie ist das Vermeiden von verwackelten Aufnahmen. Bei freihändigem Fotografieren ohne Stativ muss deshalb hinreichend kurz belichtet werden. Das bedeutet, es muss bei geringen Lichtverhältnissen oder bei längerer Brennweite (Zoom) die Empfindlichkeit (ISO) erhöht werden. Dafür sorgt normalerweise die Vollautomatik der Kamera. Der Nachteil ist das erhöhte Sensorrauschen und somit eine schlechtere Bildqualität.

 

Vorab aber eine kleine Denksportaufgabe: Sie stehen mitten in einer wunderschönen Landschaft, Abendstimmung, Vollmond, Bodennebel, Hirsch, Kranich, Fuchs usw. aber kein Stativ oder Ähnliches dabei. Sie möchten gerne mit 1/60 Sekunde belichten, durch die Lichtverhältnisse fehlen Ihnen aber 2 Belichtungsstufen, so dass Sie mit 1/15 Sekunde, also einer viermal längeren Belichtungszeit auskommen müssen. Die Empfindlichkeit wollen Sie nicht noch weiter erhöhen und die Wirkung des Bildstabilisators haben Sie schon berücksichtigt. Wie erhalten Sie ganz einfach und ohne Hilfsmittel trotzdem freihändig eine nichtverwackelte Aufnahme? Auflösung folgt!

 

Zunächst jedoch zu der grundsätzlichen Frage: Wie kurz muss denn nun für eine scharfe Aufnahme belichtet werden? Dazu ein interessantes Experiment: Es wurden 100 Aufnahmen mit der gleichen Belichtungszeit gemacht, die drei Besten und die drei Schlechtesten sind nachfolgend dargestellt: 

 

 

 

 

Wie man sieht, hängt das Ergebnis stark vom Zufall ab. Noch deutlicher wird dies in einem weiteren Experiment, bei dem ein roter Lichtpunkt mehrere hundert Mal fotografiert wurde. Je länger die Striche, umso stärker wurde verwackelt:

  

 

 

 

Damit wird klar,  dass es entgegen der altbekannten Faustformel  (z.B. bei 50 mm nicht länger als 1/50 Sekunde) überhaupt nicht sicher ist, ob man ab einer bestimmen Belichtungszeit wirklich eine nichtverwackelte Aufnahme erhält! Das ist bedenklich.

 

Das Problem hat also mit Statistik zu tun.  Das reizt den fotografisch interessierten Ingenieur, der Sache näher auf den Grund zu gehen mit der Aussicht, Klarheit zu erlangen und am Schluss eine einfache Formel zu finden, mit der jeder ohne Hilfsmitte das Problem Verwacklung/Bildrauschen verkleinern kann!

 

Das nächste Bild zeigt die Wackelbewegung über eine Zeitspanne von 25 Sekunden. Mit einem Induktionssensor wurde die vertikale Winkelgeschwindigkeit gemessen, die bei einer normalen Testperson mittleren Alters mit der Kamera in Aufnahmehaltung entsteht.  Erwartungsgemäß zeigt die statistische Auswertung eine Normalverteilung. 

 

 

 

 

Mit den folgenden geometrischen Zusammenhängen erhalten wir eine einfache Beziehung für die Strichlänge s entsprechend dem Verwacklungsgrad.  s ist mit guter Näherung proportional zur Winkelgeschwindigkeit dphi/dt (phiPunkt) , der Belichtungszeit T und Brennweite f. 

 

 

 

 

Mit der Berücksichtigung, dass auch in horizontaler Richtung gleichermaßen verwackelt wird, lässt sich die statistische Verteilungsfunktion der richtungsunabhängigen Winkelgeschwindigkeit berechnen:

 

  

 

Das nächste Bild zeigt die statistische Auswertung von Punktaufnahmen sowie eine numerische Simulation über 100000 Aufnahmen - passt!

 

 

 

 

Mit diesen Ergebnissen kommen wir auf eine interessante Aussage, welche die folgende Frage beantwortet: Wie sicher erhalte ich eine nicht verwackelte Aufnahme, wenn ich nach der altbekannten Grundregel fotografiere, nach der die maximal erlaubte Belichtungszeit der inversen Brennweite entspricht – also z.B. bei f=100 mm nicht länger als 1/100 Sekunde (bezogen auf Vollformat bzw. KB).

  

Nehmen wir einen 18MPx-Sensor und fordern, dass die Aufnahme nicht stärker als eine Pixelbreite (z.B. 0,007 mm bei Vollformat) verwackelt sein soll, so können wir über die Verteilungsfunktion die Wahrscheinlichkeit für eine nichtverwackelte Aufnahme leicht ausrechnen und erhalten einen Wert von ca. 0.1. Das bedeutet im Klartext: Von 10 Aufnahmen sind 9 verwackelt. Das ist bedenklich!

 

Oder andersherum: Bleiben wir bei einer Toleranzgrenze von einer Pixelbreite, fordern aber dass 90% aller Aufnahmen nicht verwackelt sein sollen, so lässt sich berechnen, dass eine Sensorgröße von ca. 1 MPx ausreichen würde!

 

Nach dieser netten Erkenntnis nun zur Lösung der eingangs gestellten Denksportaufgabe. Wahrscheinlich waren Sie intuitiv ja schon auf dem richtigen Weg! Es ist doch ganz einfach: Sie machen eine Aufnahmeserie (oder lassen es die moderne Kamera machen) und suchen sich dann die am wenigsten Verwackelte raus!

 

Die spannende Frage lautet: Wieviele Aufnahmen soll ich denn nun machen, wenn mir eine oder mehrere Belichtungsstufen bzw. Blendenstufen fehlen? Um dies zu berechnen formulieren wir die Problemstellung etwas genauer:

 

Wieviele Aufnahmen n sind bei einer um m Stufen verlängerten Belichtungszeit erforderlich, damit mit der ursprünglichen Sicherheit mindestens eine nichtverwackelte Aufnahme dabei ist? Die Antwort liefert die folgende Berechnung:

  

 

 

 

Damit kennen wir die Wahrscheinlichkeit einer nichtverwackelter Einzelaufnahme sowie die Wahrscheinlichkeit für mindestens eine nichtverwackelte Aufnahme innerhalb einer Serie von n Aufnahmen mit verlängerter Belichtungszeit.  Beide Werte sollen ja gleich sein! Daraus folgt die gesuchte Anzahl n:

 

 

 

 

Mit dieser interessanten Beziehung lässt sich also ohne Hilfsmittel das Verwacklungsproblem reduzieren, und das zusätzlich zur Verbesserung durch einen Bildstabilisator. Für unser Beispiel in der Denksportaufgabe mit zwei fehlenden Belichtungsstufe (m=2) bedeutet dies: Kamera auf Serien-Mode, und mit 16 Aufnahmen haben wir mit der ursprünglichen Sicherheit trotz 4 mal so langer Belichtungszeit ein scharfes Ergebnis! 

 

Dieses Ergebnis wurde von mir zum ersten Mal 1983, also noch in Zeiten der Analogfotografie veröffentlicht. Die praktische Anwendung kostete somit Filmmaterial. Inzwischen ist eine schnelle Bilderserie mit Digitalkameras und Smartphones kein Thema und selbst das Auswählen des besten Shots ist teilweise schon automatisiert.

 

 

 

Zusammenfassung

 

Das Verwacklungsproblem ist von statistischer Natur und lässt sich durch die Rayleigh-Verteilung beschreiben.

 

Soll die Verwacklungsunschärfe nicht größer als eine Pixelbreite sein,  so sind nach der altbekannten Regel: Belichtungszeit kleiner entspr. 1/Brennweite ca. 9 von 10 Aufnahmen verwackelt!

 

Mit einer einfachen Formel lässt sich die Anzahl von Aufnahmen angeben, die notwendig sind, um bei fehlenden Belichtungsstufen eine unverwackelte Aufnahme zu erhalten.

 

 

 

Literatur:

Erhard Bühler

Eine Anwendung der Rayleigh-Verteilung auf ein Problem der Photographie

Statistische Hefte 24, Springer Verlag 1983